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Klavierstimmen Klaviertechnik Musikinstrumentenbau Michael Schmidt
Klavierstimmen als Beispiel für ganzheitliches Verständnis, Denken und Tun
Klavierstimmen gilt als schwierig; aber was daran ist eigentlich schwierig?
Bei vielen Tätigkeiten ergibt sich das beste Ergebnis, wenn ich jedem einzelnen Schritt möglichst perfekt mache.
Bei anderen Tätigkeiten komm ich in Teufels Küche, wenn ich so vorgehe; z.B. beim Klavierstimmen.
Ein Klavier hat 88 Tasten.
Die meisten dieser Tasten haben einen Chor von drei Saiten aus blankem Draht.
Diesen Draht gibt es in vielen verschiedenen Stärken und etwas unterschiedlichen Legierungen.
Selbst wenn dieser Chor aus drei Saiten von der gleichen Rolle stammt und sie wirklich sehr genau gleich lang sind, klingen sie niemals 100% gleich - und wenn es nicht der gleiche Draht ist, dann höre ich den Unterschied sogar sehr deutlich.
Bei den tiefen Tönen sind die Saiten mit Kupferdraht umwickelt, damit sie schwerer sind und langsamer schwingen.
Hier sind die Unterschiede noch viel größer; dieser Draht wird auch heute noch von einem Menschen mit einem dicken Lederhandschuh geführt und gebremst, damit er sich schön gleichmäßig, nicht zu stramm und nicht zu lose um den Stahldraht in der Mitte legt; selbst bei den Saitenwicklern, deren Saiten zuverlässig gut klingen, hängen hörbare Feinheiten davon ab, ob er hungrig ist, Ärger mit seiner Frau hat, oder gestern Abend mit Freunden gefeiert...
Dann sind Saiten im Klavier ungefähr das Gegenteil eines geschlossenen Systems, die es ja nur in Physikbüchern gibt:
Die Vibration geht über Steg und Resonanzboden, Stimmstock und Stahlrahmen überall spazieren, unterhält sich angeregt mit dem Holz, den andere Saiten, der linken hinteren Rolle und letztlich der gesamten Nachbarschaft.
Die Reaktion der Nachbarschaft wirkt dann auf die Saite zurück und beeinflusst Tonhöhen- und Lautstärkeverlauf der einzelnen Teiltöne...
Wenn der Hammer gegen die Saite schlägt, entsteht im ersten Moment ein ziemliches Durcheinander; bis sich die Schwingung sortiert hat, steigt die Tonhöhe; je lauter desto höher und fällt im Ausschwingen auf einen halbwegs stabilen Wert... bei Western-klavieren und Mozartflügeln ist dieser Tonhöhenablauf so ausgeprägt, dass sie richtig verstimmt klingen, wenn der Spieler das nicht "im Griff" hat; also die relative Anschlagstärke nach der Tonhöhe ausrichtet.
Die Wechselwirkung oder die Energieabgabe im wesentlichen über den Resonanzboden wirkt diesem Verlauf entgegen.
Bei manchen modernen Klavieren ist der Ausgleich so perfekt, dass der Ton fast gerade ist, was aber nicht schön klingt.
Bei manchen Klavieren, eher billigen lauten, tauchen manche Töne, also fallen erst und steigen dann; klingt auch nicht gut.
Also diese - natürlich unterschiedlich - steigenden und fallenden Töne, die im Zeitverlauf umeinanderschwebenden Chöre unter einen Hut zu bringen, macht dem Klavierstimmer das Leben nicht gerade leichter; sind aber eher die Feinheiten.
Klaviere sehen ziemlich stabil aus; wer schon mal eines getragen hat, weiss, dass sie sich auch so anfühlen.
Trotzdem: wenn ich die Spannung einer Saite erhöhe, gibt das ganze Instrument etwas nach und im Schnitt werden alle anderen ein klitzekleines bisschen schlapper... erhöhe ich bei vielen oder allen Saiten die Spannung gibt das Klavier nach und nach nach und die zuerst gestimmten sind zum Schluss hörbar zu niedrig... und selbstverständlich gibt ein Klavier, das was auf sich hält, nicht gleichmäßig nach, sondern hier ein bisschen mehr, da was weniger und völlig überraschend tanzt das D''' noch aus der Reihe... ach ja, und wenn die Spannungsänderung größer ist, dann kann die Reaktion auch etwas dauern - "es arbeitet nach" so über Nacht...
Sehr spaßig sind Temperaturänderungen während des Stimmens; die Saiten reagieren sofort; der Stahlrahmen, der das bei modernen Instrumenten oft fast perfekt ausgleichen kann mit einigen Stunden Verzögerung...
Bevor es Stimmgeräte und abgestimmte Sätze von Stimmgabeln gab, war das größte Problem die 12 Töne in ein gleichstufig temperiertes Verhältnis zu bringen; es ist schon eine Kunst und bedarf einiger Übung und natürlich vor Ort Zeit.
Wenn ich das nicht hinbekomme, brauchen mich die übrigen Feinheiten auch nicht zu interessieren.
Das wichtigste nach der Temperatur ist die Spreizung, die durch die Inharmonizität der Saiten bedingt ist.
Im Kapitel über das Hören und bei Tonsystemen ist von der Obertonreihe die Rede; diese Obertöne sind ganzzahlige Vielfache des Grundtones - bei Saiten sehr anschaulich nachvollziehbar...
Tonhöhe ergibt sich aus Saitenlänge, Saitenmasse und Spannung nach einer einfachen Formel...
ja, in einem geschlossenen System mit einer idealen Saite, die exakt keine Materialeigenschaften hat.
Eine Klaviersaite ist steif und hat ein gewisses Maß an innerer Dämpfung; speziell bei den gewickelten Saiten sind die Eigenschaften altersabhängig und hochgradig unlinear.
Grundsätzlich kommt die Biegesteifigkeit zur Spannung dazu und erhöht die Frequenz - und zwar umso mehr, je kürzer die Wellenlänge ist - also bei den hohen Obertönen. Bei blankem Draht lässt sich dieses Verhalten einigermaßen genau vorausberechnen, gewickelte Saiten zeigen hier ein beachtliches Maß an Individualität.
Da wir nur im Einklang der Obertöne genau hören, müssen alle Obertöne aller Saiten eines Klavieres ein möglichst kohärentes System bilden... nachdem ich die 12 Töne irgendwo in der hohen Mitte in ein gleichstufiges Korsett gezwungen habe, sinds dann wesentlich die Oktaven - also z.B. alle C´s von ganz unten bis ganz oben, die jetzt kohärent schwingen sollen - wegen der zu hohen hohen Obertöne führt das dahin, dass die hohen Grundtöne eines KLavieres zu hoch und die tiefen Grundtöne zu tief gestimmt werden müssen; bei Kleinklavieren kann diese Spreizung, wie das offiziell heißt, bis zu einem Halbton betragen; dann ist das C''''' in Wahrheit ein C# und Subkontra A ist ein Ab.
Hätte jetzt jede Saite genau einen Oberton, ginge die Sache wenigstens in dieser Hinsicht perfekt auf; dummerweise haben Saiten mit dem gleichen Tonnamen sehr viele Obertöne gemeinsam; selbst wenn ich vom Tonhöhenablauf mal absehe, der natürlich bei den verschiedenen Teiltönen einer Saite unterschiedlich ist, passen immer nur ein Teilton-paar zweier Saiten wirklich perfekt zusammen - bei den glatten Saiten moderner und halbwegs hochwertiger Klaviere ist das schon alles recht gut abgestimmt, aber bei den dünnen gewickelten muss ich oft entscheiden ob ich enger oder weiter stimme; was besser klingt, hängt dann von der Musik ab, die auf dem Klavier gespielt wird.
Und aus all diesen Aspekten, die teils wichtiger, teils weniger gewichtig sind, muss der Klavierstimmer ein kohärentes Feld zaubern - berücksichtigt er einen Aspekt zu sehr, leiden andere; ich muss also eine äusserst komplexe Balance schaffen.
Aufs Sehen übertragen heißt die Herausforderung: Sehr konzentriert das gesamte Gesichtsfeld wahrnehmen oder allgemeiner hochkonzentriert entspannt; nicht auf ein Detail focussiert sondern aufs Ganze.
Je schlechter das Klavier, desto größer die Enscheidungsspielräume - desto dringender muss ich diese Entscheidungsbalance über die Stimmzeit aufrecht erhalten, damit das Ergebnis gleichmäßig unbefriedigend ist...
Dann fällts nämlich am wenigsten auf
Ich hab früher versucht Flügel wie Cembalo wohltemperiert zu stimmen; objektiv klingen dadurch einige Tonarten harmonischer auf Kosten anderer - subjektiv hört man aussschließlich, dass einiges schlechter klingt und damit das Gesamtergebnis... bei Cembalo hört man die dissonanten Terzen viel deutlicher als bei Klavier; aber ich persönlich hab da auch lieber einheitlich dissonante - sonst muss man mitteltönig stimmen, aber dann hat man die engen Quinten am Hals...
Was ich hier fürs Klavierstimmen eher spaßeshalber ausgeführt habe, gilt in durchaus vergleichbarer Form auch für viele andere Tätigkeiten, sofern sie sich mit materieller Realität beschäftigen.
Lange vor dem logischen Verstand hat jeder Mensch und jedes Tier die Fähigkeit komplexe Ganzheiten zu erfassen und damit zu "arbeiten" - denn die Natur der Realität ist ein einziges großes Ganzes in dem alles mit allem zusammenhängt.
Wenn ich bewusst mit Ganzheiten arbeiten will, dann ist es mindestens hilfreich, wenn nicht Voraussetzung, dass ich die Teile dieser Ganzheit einmal genau unter die Lupe nehme, studiere, den kausalen Verästelungen, auch wenn sie letztlich zu einem guten Teil Illusion sind, nachspüre - all den scheinbaren Widersprüchen (die Natur kennt sie nicht; sie ist wie sie ist).
Fürs Klavierstimmen, so wie ich es heute beherrsche, musste ich lernen gleichzeitig die verschiedenen Teiltöne der erklingenden Saiten in ihrem zeitlichen Verlauf im Einklang mit der relativen Anschlagstärke zu verfolgen; dazu übersteigert die Wahrnehmung bestimmte Aspekte gewaltig - ebenfalls gleichzeitig muss der Denker in uns, diese Stimme, die bei den meisten Menschen unserer Kultur nie schweigt, still sein - denn sonst kann man nicht wirklich zuhören; da ist kein Platz für Kommentare, Sorgen oder sonstwas - die ganze Bewusstheit ist im Tonraum und im Komplex aus Stimmhammer, Wirbel und Saite mit ihren 3 Teilen, auf die ich vorhin gar nicht eingegangen bin; Für ein Ich ist da kein Platz, sind keine Resourcen verfügbar; die Intensität dieser multifocalen Konzentration "atmet" natürlich...
Wie gesagt: viele Tätigkeiten, gerade im Handwerk, würden sich ganz ähnlich lesen, wenn man sie mal genau unter die Lupe nimmt.
Worauf ich hinauswollte ist: die Voraussetzung für ganzheitliches Verständnis ist ein Verständnis der Teile, die dann im Sinne des Wortes als Teile eines größeren Ganzen begriffen werden; wenn ich dann an oder mit den Teilen arbeite, muss ich das Ganze im Sinn haben und nicht das Teil ansich.
Jeder Mensch hat die Fähigkeit ganzheitlich wahrzunehmen; fang ich an, die einzelnen Teile zu studieren, wird diese ganzheitliche Wahrnehmung erstmal aus der Balance gebracht - es kann ich sehr langer Weg sein bis man aus einem bewussten Verständnis heraus ähnlich gute Ergebnisse erzielt wie aus Bauch oder Gefühl; eigentlich ist das in vielen Bereichen der eigentliche Sinn des Studiums oder der Berufsausbildung... gerade im akademischen Bereich lässt sich die ganzheitliche Sicht nur schlecht vermitteln; in Worten kann ich zwar drüber schreiben, aber lernen kann man das so nicht.
Unsere ganze Kultur ist extrem verkopft oder besser ver-konzeptioniert - wir nehmen die Realität - selbst im Jetzt durch das Filter von Konzepten wahr - als eine Art illusionäres Scheinding statt in seiner Wesenhaftigkeit.
Auf der anderen Seite hat man viele Menschen die zwar ganzheitlich herangehen, dabei aber das hinschauen vermeiden.
Das Ergebnis ist meist eine wilde Mischung aus schwammigem Ungefähr gemischt mit nicht hinterfragbaren Meinungen, die z.B. auf Verletzungen in der Kindheit beruhen, Ängsten Peinlichkeiten oder die allgemein oder sektenweise geglaubten Medien-märchen unreflektiert
Michael Schmidt Trierer Str.49 53909 Zülpich Tel. 02252 81259 Mobil 0178 1530 967 ibau19@gmx.de